Einprägsame Bühnenbilder, die zwei Meisterwerke der Operngeschichte in neues Licht rücken: Edles Holz bestimmt Gideon Daveys Raum für Giuseppe Verdis „Don Carlo“, der dennoch klaustrophobische Züge trägt. Denn die kassettenartig vertäfelten Wände rücken immer wieder zusammen, wodurch schmale Verliese entstehen, in denen die Protagonisten eingeschlossen sind. Alle sind einsame Gefangene eines Machtsystems, das ihnen keinerlei Spielräume lässt. Wenn Licht auf das Holz fällt, meint man auch jene Flammen zu erkennen, mit denen im 16. Jahrhundert die katholische Inquisition Europa verheerte. Regisseurin Jetske Mijnssen nutzt dieses Ambiente für ein beklemmendes Kammerspiel, das in der Autodafé-Szene kulminiert, als die offenkundig gefolterten flandrischen Gesandten langsam auf einer blutigen Schlachtbank über die Bühne gezogen werden.
Knalliges Rot dominiert den Hintergrund von Eleni Konstantatous Bühne für Leoš Janáčeks „Katja Kabanova“: ein merkwürdiger Zwitter aus Kirche und Badeanstalt, wofür die protestantische St. Petri-Kirche in Sankt Petersburg Pate stand, die in der Sowjetzeit in ein Schwimmbad umgewandelt worden war. Von der Wolga fehlt jede Spur, sie ist nur symbolisch in der stets im Fluss befindlichen Musik aus dem Orchestergraben präsent. Von Regisseurin Anika Rutkofsky in einen Patriarchen verwandelt, diszipliniert Dikoj die Dorfgemeinde, während er selbst lüstern nach der Kabanicha hechelt. Folglich mutiert die durch Vorhänge angedeutete orthodoxe Ikonostase in eine glühend-rote Vulva. Das ist zwar plakativ und szenisch oft reichlich überladen, doch bringt es auf den Punkt, wie stark bigotte Strukturen die Tragödie von Katja Kabanova beeinflussen.
Schmid und Kluttig verlassen Graz gleichzeitig
Mit diesem ungewöhnlichen Doppel – Mitte März hatte „Katja Kabanova“ Premiere, drei Wochen später folgte die Wiederaufnahme von „Don Carlo“ – neigt sich in Graz die Intendanz der Schweizerin Nora Schmid allmählich dem Ende zu. Bei beiden Stücken stand Roland Kluttig, der am Ende dieser Spielzeit gleichfalls Abschied nimmt von der steirischen Hauptstadt, am Pult des konzentriert und farbenreich spielenden Grazer Philharmonischen Orchesters. Seine detailgenaue und rhythmisch prägnante Deutung von Janáčeks Oper machte viele Ungereimtheiten der Inszenierung wett. Auch bei der Führung der Sänger ist auf Kluttig Verlass. So konnten sich die Grazer Philharmoniker, die mit Dirk Kaftan (bis 2017) und Oksana Lyniv (bis 2020) unter Schmids Ägide zwei weitere hervorragende Chefdirigenten besaßen, zu einem der besten Opernorchester Österreichs entwickeln. Und mit Kluttigs feinfühligem Dirigat von Georg Friedrich Haas’ Oper „Morgen und Abend“ profilierten sich die Grazer Musiker auch als Interpreten zeitgenössischer Musik.
![Oper Graz: Bilanz der Amtszeit von Schmid und Kluttig (1) Oper Graz: Bilanz der Amtszeit von Schmid und Kluttig (1)](https://i0.wp.com/media0.faz.net/ppmedia/w1240/aktuell/3682205666/1.8824940/original_aspect_ratio/szene-aus-verdis-don-carlo.jpg)
Trotz des hohen musikalischen Niveaus und eines beachtlichen Sängerensembles – Otar Jorjikia als Don Carlo, Neven Crnić als Marquis von Posa und Marjukka Tepponen als Katja seien aus den aktuellen Produktionen exemplarisch genannt – verlässt Nora Schmid die Oper Graz nach acht Jahren. Denn sie folgt einem verlockenden Ruf aus Dresden, wie sie im Gespräch mit der F.A.Z. erzählt: „Die Semperoper Dresden ist von der Struktur her ganz besonders: Sie ist ein bedeutendes Opernhaus, auch eine wichtige Bühne fürs Ballett und außerdem ein Konzerthaus für die Sächsische Staatskapelle. Diese Mischung ist herausfordernd.“ Im Unterschied zu Graz, wo aufgrund der Größe der Stadt der Fokus klar auf Neuproduktionen liegt, baut die Semperoper auf einem breiten Repertoire auf, in das punktuell Neuproduktionen eingefügt werden. „Diesen riesigen Schatz an Geschichte weiterzuführen und mit innovativen Neuproduktionen zu ergänzen finde ich sehr spannend.“
Während Schmid, die nach einem Vorbereitungsjahr ab der Spielzeit 2024/25 die Semperoper leiten wird, klare Zukunftsperspektiven hat, wird Kluttig zunächst als freischaffender Dirigent agieren: „Ich finde es gar nicht schlecht, nach dreizehn Jahren, inklusive meiner Zeit als GMD in Coburg, nicht sofort wieder eine Chefposition zu übernehmen, denn ich habe einen gut gefüllten Kalender mit Konzerten und finde dazwischen auch Zeit, Partituren zu studieren. Ich kann mir auch gut vorstellen, später ein reines Konzertorchester als Chefdirigent zu übernehmen und eigene Programme zu gestalten.“ Begonnen hatte Kluttig seine Grazer Zeit bereits 2018 als Gastdirigent in Paul Dukas’ „Ariane et Barbe-Bleu“. Mit Karol Szymanowskis „Król Roger“ setzte er als Grazer Chefdirigent 2019 eine Reihe von selten gespielten Opern fort, die all die Jahre von Schmids Intendanz bestimmt hatten.
![Oper Graz: Bilanz der Amtszeit von Schmid und Kluttig (2) Oper Graz: Bilanz der Amtszeit von Schmid und Kluttig (2)](https://i0.wp.com/media0.faz.net/ppmedia/w1240/aktuell/2813549630/1.8824932/original_aspect_ratio/roland-kluttig-l-und-nora.jpg)
Bereits Dirk Kaftan hatte sich intensiv auf diese an die ideenreiche Ära Brunner anknüpfende Programmatik des Grazer Hauses eingelassen und dirigierte Werke wie Franz Schrekers „Der ferne Klang“ (Regie: Florentine Klepper, 2015) oder Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ in der spektakulär-filmischen Inszenierung von Lorenzo Fioroni (2016). Am Beginn der laufenden Saison setzte der Schweizer Regisseur auch Benjamin Brittens „War Requiem“ so in Szene, dass der nahe Krieg in der Ukraine schmerzhaft spürbar wurde: Der laute Knall in der vermeintlichen Siegesfeier im Finale und die anschließende Finsternis werden in Erinnerung bleiben.
Dass im vergangenen Jahr mit Haas’ „Morgen und Abend“ das Tor zur musikalischen Gegenwart geöffnet wurde, ist sicher auch auf Kluttigs Einfluss zurückzuführen. Der Dirigent brachte auch in der Corona-Zeit wichtige Ideen ein, um diese Phase kreativ zu überstehen. So wurde etwa neben zahlreichen Webauftritten 2021 eine CD von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ produziert, die wegen der Lockdowns lange Zeit nicht live aufgeführt werden konnte.
Ohne ihre Grazer Programmatik eins zu eins übertragen zu wollen, möchte Schmid auch in Dresden neue Opern zeigen, obgleich nicht nur in Uraufführungen: „Nicht minder wichtig ist es, zeitgenössischen Stücken erneute Chancen zu geben. Denn ich bin überzeugt von der Kraft und der Wirkung dieser Opern. Und es ist meine Aufgabe, diese Überzeugung an die Mitarbeiter des Hauses weiterzugeben, damit der Funke ins Publikum überspringen kann.“ In Graz ist ihr das zweifellos gelungen.